Buchtipp,  Gastland Italien

Das Leben wartet nicht / Marco Balzano

Gastland Italien – Folge 3 meines Projekts, die Übersetzungen aus dem Italienischen der letzten Zeit vorzustellen. Hier ein erschütterndes Beispiel, wie schrecklich es Menschen ergeht, die aus Armut ihre Heimat verlassen müssen und das ganze Leben darunter zu leiden haben. Obwohl ein Rückblick, ist dieses Buch aktueller den je. Ich wünsche ihm viele Leser und Leserinnen.

Das Leben wartet nicht / M. Balzano

Süd-Italien in den fünfziger Jahren. Es herrscht bittere Armut bei den Napulí oder Terroni – wie die Mailänder die Gastarbeiter aus dem Süden nennen. Ninetto, der von einem Salzhering am Tag leben muss, wird schon im Alter von 9 Jahren mit einem Onkel von Sizilien nach Mailand zum Arbeiten geschickt. Die Verhältnisse dort sind katastrophal. In heruntergekommenen, dreckigen Mietkasernen teilen sich die Arbeiter kleine Wohnungen. Kinder wie Ninetto müssen sich mit Gelegenheits- und Schwarzarbeiten durchschlagen, da sie erst mit 15 Jahren eine offizielle Arbeit in einer Fabrik bekommen können. Sie werden vor der Zeit erwachsen – so auch Ninetto, der ein Mädchen aus Kalabrien kennenlernt. Gerade mal 15 Jahre, fahren beide zum Heiraten in Ninettos Heimatdorf in Sizilien, wo der Vater den Priester überreden kann, die Trauung vorzunehmen. Zurück in Mailand findet Ninetto Arbeit bei Alfaromeo. Sie bekommen ein Kind. Alles läuft so dahin, die schwere Arbeit in der Fabrik, das einfache Leben als kleine Familie in Mailand. Ninetto hätte gerne mehr gelernt, die ersten Schuljahre in Sizilien gefielen ihm, der dortige Lehrer war ihm ein Vorbild. Er wäre gerne Schriftsteller geworden. Stattdessen muss er in der Fabrik schuften.

„Manche werden als Hauptstraße geboren, manche als Sackgasse. Das Gesetz, das bestimmt, wer ein armer Teufel ist und wer nicht, gilt ja für das ganze Universum, nicht nur für die Menschen.“ (S. 278)

Als er eines Tages seine halbwüchsige Tochter im dunklen Keller mit einem jungen Mann erwischt, sieht er rot und greift zum Messer. Er verletzt seinen künftigen Schwiegersohn so schwer, dass dieser sich von den Verletzungen nie wieder ganz erholt. Ninetto geht für diese Tat fast 30 Jahre ins Gefängnis. Er weiß nichts mehr mit sich anzufangen und stellt fest: das Leben wartet nicht.

„Und das Leben geht unterdessen weiter, es wartet nicht auf dich,…“ (S. 215) „…das Leben drängte sie weiter. Weiter, immer weiter, während es mich kurz hielt wie einen Hund an der Kette.“ (S. 243)

Balzano schreibt im Nachwort, dass er viele Arbeiter aus dem Süden Italiens interviewt hat, die jetzt um die 70 sind und viel zu früh erwachsen werden mussten. Seine Geschichte um Ninetto steht exemplarisch für die vielen Lebensläufe, die ihm erzählt wurden. Heute, über fünfzig Jahre später, leben in denselben Wohnblöcken Mailands die Neuankömmlinge aus China und Nordafrika. Sie haben dieselben Träume wie die Süditaliener damals.

Das Leben wartet nicht. Roman / Marco Balzano. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. – Zürich: Diogenes, 2017. – 304 S. –  ISBN 978-3-257-06983-9 ; 22 €

Über den Autor:

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist der Sohn von Süditalienern, die ihr Glück im Norden suchten. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Neben dem Schreiben arbeitet er als Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium. ›Das Leben wartet nicht‹ ist sein bisher erfolgreichster Roman. Er lebt mit seiner Familie in Mailand. (Verlagstext)

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary