Buchtipp

Zeit der Schwalben / Nikola Scott

„Die fünfziger Jahre waren ein merkwürdiges Jahrzehnt, eingeklemmt zwischen dem Krieg auf der einen und den rebellischen sechsziger Jahren auf der anderen Seite. […] In vieler Hinsicht war diese Zeit heil und aufregend und unschuldig, aber es gab auch eine dunklere Seite. Spitzengardinen-Anständigkeit und die Schicklichkeit der Vorkriegszeit sperrten Frauen, die während des Krieges in der von Männern dominierten Gesellschaft Fuß gefasst und ihr Land tatkräftig unterstützt hatten, wieder ins Haus zu ihrer Familie und unterwarfen sie der Heuchelei und Doppelmoral geradezu viktorianischer Moralvorstellungen, die abweichendes Verhalten nicht tolerierten.“

Dies schreibt die Autorin Nikola Scott in ihrem Nachwort zu „Zeit der Schwalben“, das im Original „My Mother’s Shadow“ heißt. Doch dazu später.

978-3-8052-0037-0Zuerst wunderte ich mich über das nette Umschlagfoto, dass so gut zu Urlaub und Entspannung passt. Ein leichtes Sommerbuch für Frauen also. Ich kann mir schon denken, warum der Verlag ein wunderschönes, hellblaues Cover und einen luftig-leichten Titel für ein Buch ausgesucht, das im August erscheint und möglichst viele Leserinnen zum Kauf animieren soll. Die Rechnung geht sicher auf, da ich schon viele entzückte Äußerungen dazu gefunden habe. „Der Schatten meiner Mutter“, wie es ja eigentlich heißen müsste und den Kern der Geschichte viel eher träfe, erschien der Marketingabteilung anscheinend zu düster. Erstaunlich übrigens, wie viele Bücher mit „Zeit der …“ beginnen, als sei allein das schon ein verlockendes Leseversprechen.

Obwohl das Buch wirklich wunderbar im Sommer zu lesen ist – ich habe es in ein paar Tagen verschlungen – hat es doch einen sehr ernsten, traurigen Kern.

Elizabeth ist jung am Ende der 50ger Jahre in London. Der Vater ist ein tiefgläubiger und strenger Mann. Die Mutter laboriert an einer schweren Krankheit, was Elizabeth jedoch nicht wirklich bewusst ist. Im Sommer, in dem sie 17 wird, soll sie zu Verwandten aufs Land, wo sie im Kreise junger Menschen herrliche Ferien und unbeschwerte Wochen genießt – ein Leben, wie sie es bis dahin nicht kannte. Sie verwechselt einen Flirt und die Leidenschaft eines jungen, verheirateten Mannes mit Liebe und wird ungewollt schwanger. Sie hatte bis dahin weder von Verhütung noch von den körperlichen Vorgängen von Schwangerschaft und Geburt gehört. Im Heim für gefallene Mädchen, in das sie bei Bekanntwerden der Schande von ihrem Vater gesteckt wird, munkeln die Mädchen untereinander, dass die Babys durch den Bauchnabel zur Welt kämen.

Dies ist die, ich nenne sie einmal „innere“ Geschichte des Romans, um die sich alles dreht. Von Elizabeth erfahren wir aus ihrem Tagebuch, welches mehr als 40 Jahre später ihrer Tochter Adele in die Hände fällt. Die „äußere“ Geschichte spielt im Jahr 2000, ein Jahr nach dem Tod von Elizabeth. Kurz zuvor hatten Elizabeth und ihr Mann George noch ihren 40. Hochzeitstag ganz groß gefeiert.

Die Erzählung setzt ein, als sich die ganze Familie zum Jahrgedächtnis von Elizabeths Tod in der elterlichen Wohnung zusammenfindet. Adele nimmt den mysteriösen Anruf eines Detektivs entgegen, der sie irrtümlich für ihre Mutter hält und ihr mitteilt, dass er in der Suche nach ihrer Zwillingsschwester weitergekommen sei.

Kurze Zeit später steht Phoebe vor ihrer Tür. Adele will zuerst nicht wahrhaben, dass ihre Mutter zwei Kinder bekommen und eines davon nach der Geburt zur Adoption weggegeben haben soll. Und auch Phoebe ist verwirrt und verhält sich Adele und ihrer Familie gegenüber ziemlich ungeschickt. Als Adele ihren Vater zur Rede stellen will, erleidet dieser einen Herzinfarkt und muss ins Krankenhaus, wo er erst einmal nicht ansprechbar ist. Mit den wenigen Anhaltspunkten, die die sehr ungleichen Schwestern haben, begeben sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und die wahren Umstände ihrer Geburt.

Beide Zeitebenen sind jeweils aus der Ich-Perspektive der jeweiligen weiblichen Hauptperson geschrieben, was anfangs etwas verwirrend ist. In dem Maße indem sich die Erkenntnisse der Schwestern erweitern und die beiden Frauen sich langsam akzeptieren und einander näherkommen, erfahren wir aus dem Tagebuch der Mutter vom ganzen Ausmaß der Tragödie um die Geburt der Kinder.

screenshot_20170823-143623Ein packender, im englischen Original „unputdownable“ genannter Roman, der äußerst lesenswert und eigentlich gar keine leichte Sommerlektüre ist, sondern auf erschreckende Weise die strengen, völlig überzogenen Moralvorstellungen nicht nur in England beschreibt. Schade, dass Männer wahrscheinlich wieder nicht zu so einem Buch greifen werden.

Zeit der Schwalben : Roman / Nikola Scott. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. – 1. Aufl. – Reinbek bei Hamburg : Wunderlich, 2017. – 503 S. – ISBN 9783805200370 – fest geb. : 19,95 €

Zur Autorin:

Nikola Scott ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, bevor sie jahrelang in den USA und in Großbritannien in verschiedenen Verlagen arbeitete. Sie lebt inzwischen mit ihrer Familie in Frankfurt am Main. „Zeit der Schwalben“ ist ihr erster Roman. (Verlagstext)

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

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