Seit „Eddies Bastard“ bin ich Fan von William Kowalski. Ich bin mir gar nicht so im Klaren, worin diese Faszination eigentlich besteht. Seine Themen haben eigentlich alle nichts mit meinem Alltag zu tun. Kowalski ist einfach ein wunderbarer Erzähler.
Und so habe ich bei „Hundert Herzen“ gar nicht lange überlegt und einfach drauf los gelesen. Das war auch gut so. Ich hätte wohl kaum ein Buch über PTBS und Kriegsveteranen ausgewählt.
Der kleine Kosmos von „Hundert Herzen“ liegt in Elysium, einer trostlosen Stadt am Rande der Moyave-Wüste ganz in der Nähe von Edwards Airforce Base in Kalifornien.
Die Menschen sind alle irgendwie kaputt. Al ist verbitterter Vietnamveteran, sein 25jähriger Enkel Jeremy seit 5 Jahren aus Afghanistan zurück. Bei einer Explosion während eines Einsatzes wurde er schwer verwundet, so dass er die Schmerzen an der Wirbelsäule und im Kopf nur mit regelmäßigem Konsum von Drogen im Schach halten kann. An die näheren Umstände am Tag der Explosion kann er sich nicht erinnern. Seine Therapeutin glaubt, dass er die regelmäßigen Panikattacken in den Griff bekäme, wenn sein Gedächtnis zurück käme. Trotz fehlender Ausbildung hat er eine Anstellung als Lehrer für Physik in der Highschool des Örtchens gefunden. Er findet heraus, dass sein Vater, den er mit 5 Jahren das letzte Mal gesehen hat, ganz in der Nähe in einer psychiatrischen Anstalt lebt.
Seine Mutter Rita hat sich mit einem indischen Motelbesitzer angefreundet, was ihrem Vater Al wiederum ein Dorn im Auge ist. Ritas Schwester Jeanni, die Tante von Jeremy, hat sich aus dem Staub gemacht, nachdem sie vor 18 Jahren von einem Priester vergewaltigt wurde und den geistig behinderten Henry geboren hat.
Der Roman setzt ein, als Als Frau Helen mit 66 Jahren stirbt. Sie ist die Mutter von Rita und Jeanni und die Großmutter von Henry und Jeremy.
In einem Prolog erzählt Kowalski das traumartige Sterbeerlebnis von Helen. Wie in einer Szene aus der griechischen Mythologie wird sie sanft abgeholt und in einer Idyllischen Landschaft an einem Fluss von einem Fährmann empfangen.
Helens Hobby war es, Herzen aus Holz zu bemalen und zu verzieren, welche sie auf Wohltätigkeitsbasaren und Flohmärkten verkaufte. Nach ihrem Tod bleiben Al noch hunderte von diesen Herzen.
Ohne dass der Autor es thematisiert wird dem Leser schnell klar, dass die Familie nur von Helen zusammengehalten wurde und nun unweigerlich auseinander bricht.
Während Al die auch von ihm begangenen Gräueltaten im Vietnamkrieg zu rechtfertigen versucht und als zwangsläufig für einen Krieg darstellt, sieht Jeremy die moralische Schuld bei ähnlich gelagerten Einsätzen in Afghanistan. Er hält sich für besser als Al, mit dem er deswegen immer wieder in Streit gerät. Erst im Laufe der Ereignisse kommt die Erinnerung an die Umstände seiner Verletzung zurück und er sieht ein, dass er und seine Kameraden genauso, wenn nicht sogar schlimmer, gehandelt haben. Als Jeremy in den Verdacht gerät, etwas mit einer seiner Schülerinnen zu haben und Henry, auf der Suche nach seiner Mutter Jeanni plötzlich verschwindet, begibt Jeremy sich auf die Suche nach seinem behinderten Cousin und gelangt auf diese Weise nicht nur bis nach New York sondern auch zu sich selbst.
Diese schweren Themen verpackt Kowalski in eine ganz persönliche Erzählung aus der Sicht von Jeremy. Nur in einem Kapitel erhalten wir die Innensicht aus Als Perspektive.
Näher möchte ich auf den bisweilen dramatischen Plot nicht eingehen, um hier niemandem das Lesevergnügen zu nehmen.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das Thema des Irrsinns der laufenden Kriege, bei denen schon lange keiner mehr den Nutzen und den „Erfolg“ sehen kann, besser einem breiten Publikum nahe bringen könnte. Kowalski ist es wieder einmal gelungen, mit sparsamsten Mitteln ein großes Thema zu transportieren. Packend!
Hundert Herzen / William Kowalski. – Köln: Bastei Lübbe, 2016. – ISBN 9783404173235 9,99€ (Dieser Besprechung liegt die epub-Ausgabe zugrunde.)