GiulianoSansevero
Buchtipp,  eBook,  Gastland Italien

Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero / Andrea Giovene

Ein junger Herr aus Neapel. Roman. Mit einem Nachwort von Ulrike Voswinkel. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

Über dieses Buch: „Giuliano di Sansevero wächst auf in der verfallenden Pracht der Paläste seiner Vorfahren; während des Aufenthalts in einer nahe bei Neapel gelegenen Klosterschule bricht der Erste Weltkrieg aus. Im Schatten des Krieges und in der turbulenten Zeit danach erwachen im jungen Giuliano die Liebe zu den Büchern, das Interesse am weiblichen Geschlecht – und die Neugier auf die Welt.“ (Verlagstext)

Napoli

Sansevero. Dieser Name im Titel war es, der mich aufmerksam machte auf dieses ambitionierte Romanprojekt. Ich habe einen wichtigen Teil meines Lebens in Neapel verbracht und bin mit der Geschichte der Cappella Sansevero in der Altstadt vertraut. Es ist die Privatkapelle des Raimondo di Sangro (1710–1771), Prinz von Sansevero. Wer einmal die Kapelle besucht hat und sich in die mysteriöse Geschichte des Adligen, Alchemisten und Freimaurers vertieft hat, ist nachhaltig beeindruckt. So auch ich.

Ich bin also wegen des berühmten Namens im Titel auf eine Ankündigung des Galiani-Verlages aufmerksam geworden und dachte, ich würde nun etwas mehr über die Familie derer von Sansevero erfahren. Aber da habe ich mich getäuscht.

Wie das manchmal so ist mit Missverständnissen, führen sie dann doch zu glücklichen Begegnungen. Der Autor Andrea Giovene lebte von 1904 bis 1995 und entstammt der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die ihren Stammbaum bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen können.

Die hier vorliegende fiktive Autobiographie des Giuliano di Sansevero schrieb Giovene zwischen 1966 und 1970. In Italien war die Romanfolge von 5 Bänden damals ein voller Erfolg. Nun liegt endlich auch die deutsche Übersetzung vor, um die sich Moshe Kahn verdient gemacht hat.

Der erste Band, den ich vorab als eBook lesen durfte, ist schon erhältlich, die weiteren vier Bände hat der Verlag schon angekündigt und erscheinen nach und nach bis Ende 2023.

Andrea Giovene hat seinen Roman in fünf mal fünf lange Kapitel unterteilt. Es entspannt sich eine ausgreifende Lebensgeschichte, die am Anfang des 20. Jahrhundert beginnt und im Jahr 1957 endet.

Im ersten Band „Ein junger Herr aus Neapel“ erzählt Giuliano von seiner Kindheit und Jugend. Wir begleiten ihn durchs Haus, durch die engen Gassen der Altstadt Neapels, lernen seine zum Teil skurilen Familienmitglieder kennen. In die lange Geschichte der Vorfahren wird gleich zu Beginn am großen Stammbaum der Familie eingeführt, der in einem abgelegenen Zimmer des Elternhauses ein ganze Wand bis zur Decke füllt; für den kleinen Giuliano anfangs noch nicht bis zum Ende überschaubar. Er muss einen Tisch heranrücken und darauf einen Stuhl stellen, um die weiter entfernten Äste erkennen zu können. Die Ursprünge der Familie ganz am oberen Deckenrand sind für ihn noch völlig unerreichbar. Ein schöne Metapher dafür, dass er erst in seine Familiengeschichte hineinwachsen muss.

Einen großen Teil des ersten Buches nimmt die so gar nicht kindgerechte Erziehung des „jungen Herrn“ in einem Klosterinternat, das von Benediktinermönchen geleitet wird, ein. Überhaupt ist er in der verschrobenen Adelsfamilie viel zu sehr sich selbst überlassen, was er einerseits genießt, was ihn andererseits zu einem Aussenseiter macht.

Die persönliche Geschichte des Jungen ist verflochten mit der Geschichte Italiens und Europas zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Adel und die Adelsfamilien verlieren ihre Bedeutung und ihren Einfluss. Die politischen Verhältnisse sind in Bewegung. Mit Mussolini und dem italienischen Fascismo entstehen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Familie Sansevero verschiedene Lager.

Durch verwandschaftliche Querelen und Betrügereien schmilzt das riesige Vermögen die Familie zusehends. Man zieht in ein neues Haus, lebt aber immer noch das Leben des bourbonischen Adels. Giuliano bekommt ein Zimmer im hintersten Teil des neuen Hauses auf dem Monte di Dio, das man über einen außen angebauten Korridor erreichen kann. Auch hier versinnbildlicht sich seine Aussenseiterrolle.

Die nahezu einen Meter dicken Mauern, die massiven Fensterblenden aus Kastanienholz hielten jeden Lärm von diesem Teil des Hauses fern, obwohl der Ort an sich schon still und einsam gelegen war. Das andere Fenster war eine Fenstertüre und in Wirklichkeit auch der Eingang zu diesem Zimmer, denn zu ihm führte ein langgestreckter, geradezu schwebender Korridor, auf den hinaus sich keine weiteren Türen öffneten.“

Dieses Zimmer wird Giuliano zur Festung, in der er sich ungestört der Lektüre und dem Nachdenken widmen kann. Besuch hat er dort nur selten, ungebetene Gäste kündigen sich durch das Knarren auf dem Korridor an.

Nur über den schwebenden Korridor kommunizierte ich mit den anderen im Haus, doch eigentlich war ich durch ihn von ihnen getrennt. Ich betrachtete ihn als wesentlichen Teil meines Herrschaftsbereichs und der Grenze, so wie es Nationen mit den Alpenpässen tun.“

Von hier aus startet er auch seine Erkundungen beim anderen Geschlecht. Ein Mädchen in der Nachbarschaft wird im zur Freundin und Vertrauten. Aber auch hier erlebt er Entäuschungen.

Erst hatte ich Bedenken, ob ich Lust auf eine endlos erscheinende Lebensgeschichte hätte, die noch dazu „nur“ die Übersetzung eines alten Buches ist. Moshe Kahn, der sich auch schon anderer Großprojekte (siehe das lange für unübersetzbar gehaltene Buch „Horcynus Orca“) erfolgreich angenommen hat, schafft es aber, eine zeitgemäße, flüssig lesbare Lektüre zu liefern.

Das Nachwort von Ulrike Voswinkel würdigt das Projekt Adrea Giovenes ausführlich. Hier findet sich auch eine hervorragende Zusammenfassung des Inhalts und der Verbindungen zum Leben des Autors.

Die italienische Ausgabe ist in einem Band mit fast tausend Seiten erschienen. Der Galianiverlag hat fünf lesefreundliche Bände darausgemacht. Der Einzelpreis von 26 € pro Band für das gebundene Buch erscheint mir aber zu hoch.

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https://www.galiani.de/buch/andrea-giovene-die-autobiographie-des-giuliano-di-sansevero-9783869712659

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

One Comment

  • Christopher

    Moshe Kahn hat offenbar ganze Arbeit geleistet, um diese faszinierende Lebensgeschichte zeitgemäß und flüssig zu übersetzen. Eure Begeisterung für das Werk und die Wertschätzung im Nachwort von Ulrike Voswinkel haben mich endgültig davon überzeugt, dass dies ein Buch ist, das ich unbedingt lesen muss.

    Vielen Dank für eure inspirierende Vorstellung dieses Romans und die Einblicke in das Werk von Andrea Giovene. Ich freue mich schon darauf, in die Welt des jungen Giuliano di Sansevero einzutauchen!

    Mit literarischen Grüßen,
    Christopher

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