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Biographie,  Buchtipp

Kein Teil der Welt / Stefanie de Velasco

Ein neuer Roman mit dem Thema „Zeugen Jehovas“ – da kommt noch etwas Neues? Diese Frage ging mir als erstes durch den Kopf als ich Stefanie de Velascos neues Buch „Kein Teil der Welt“ in der Hand hielt.

Nun – ich wollte es wissen. Bin ich doch in den 90er Jahren selbst etwas enger mit dem „Verein“ in Kontakt gekommen. Damals bat ich die zwei netten Damen in meine Wohnung, als sie bei ihrem üblichen Predigtdienst von Tür-zu-Tür bei mir landeten. Sie hatten allerdings nicht damit gerechnet, dass ich ziemlich bibelfest bin und so ziemlich jedes Argument und jede zitierte Bibelstelle mit einem besseren Argument und einer anderen Bibelstelle entkräften konnte. Wir erlaubten ihnen, noch einmal wiederzukommen. Diesmal abends in gemütlicher Runde. Wieder kamen sie in Erklärungsnot, als es tiefer in die religiöse Materie ging. Beim nächsten Abendgespräch schickten Sie beschlagenere Leute, wahrscheinlich etwas höher in der Hierarchie. Danach hatte wir genug gehört. Wir baten sie, von weiteren Besuchen abzusehen. Das taten sie dann auch. In der Zeit habe ich dann sehr viel zum Thema gelesen.

Nun also ein Roman. „Kein Teil der Welt“ liest sich wie ein biographischer Bericht in zwei Zeitebenen.

Esther beschreibt ihre Freundschaft mit Sulamith in einer Kleinstadt in der Nähe von Bonn in den siebziger, achtziger Jahren. Sie gehören beide zur „Wahrheit“ im Gegensatz zu den anderen „in der Welt“. Die Kinder wachsen gut behütet in der Gemeinschaft ihrer Eltern und der anderen Brüder und Schwestern auf. Manchmal müssen sie sich vor ihren Klassenkameraden und Lehrern rechtfertigen, dass sie keine Feste mitfeiern und auch nicht auf Klassenfahrten mitfahren sollen. Sie haben immer ein Schild unter ihren Kleidern an, auf dem mitgeteilt wird, dass sie keine Blutkonserven im Falle eines Unfalls akzeptieren. Für die Mädchen ist es ansonsten eine ziemlich normale, nicht weiter hinterfragte Kindheit ohne größere Probleme.

Als sich allerdings Sulamith in Daniel, einen Jungen „aus der Welt“ verliebt, kommt es zur Katastrophe.

Während der Beschreibung der Kindheit der Mädchen springt die Erzählung immer wieder zur zweiten Zeitebene, kurz nach der Wende. Mittlerweile ist Esther mit ihren Eltern in ein trostloses Dorf nach Ostdeutschland umgezogen. Sie wohnen im Elternhaus des Vaters, der nach dem Krieg in den Westen gegangen war. Hier, im bis dato „unreligiösen“ Osten, verspricht sich das Ehepaar durch ihre Missionstätigkeit mehr neue Mitglieder zu finden. Wir begleiten Esther und ihre Mutter zu den Hausbesuchen in einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung und zu den Straßendiensten, wo sie stundenlang mit den allbekannten Heftchen „Wachturm“ und „Erwachet!“ vor Kaufhäusern stehen müssen. Esther streift auch ansonsten durch das Dorf und erfährt eine Menge über ihren Vater und seine Familie. Außerdem schließt sie wieder eine neue Freundschaft mit einem Mädchen ihres Alters. Immer mehr Geheimnisse kommen ans Licht…

Das Buch ist spannend! Es hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gut unterhalten. Ich habe nur eineinhalb Tage zur Lektüre der mehr als 400 Seiten gebraucht. Passenderweise habe ich den verregneten 3. Oktober dazu verwendet, gemütlich vor dem Kamin zu lesen. Neben der vordergründigen Geschichte der Mädchen erfährt man nämlich auch eine Menge über die Lage der Zeugen in der DDR und auch davor in der NS-Zeit, wo sie ebenfalls verfolgt waren und in Konzentrationslagern landeten.

Daneben hat es mich als Kind der Zeit gefreut, die allgegenwärtigen Werbesprüche der achtziger Jahre wiederzuhören. Velasco erschafft ein plastisches Bild der Zeit, ganz nebenbei und völlig ungekünstelt.

Stefanie de Velasco rechnet nicht ab. Sie klagt auch nicht an. Vielmehr beschreibt sie das Leben der Glaubensgemeinschaft von Innen heraus. Der Alltag und die Denkweisen der Zeugen wird so folgerichtig und normal beschrieben, dass man ein noch viel klareres Bild bekommt, als es eine Anklageschrift herstellen könnte. Ich verstehe jetzt die Anziehungskraft einer solchen Gemeinschaft und sehe auch die vielen Parallelen zu anderen, breiter akzeptierten Religionsgemeinschaften.

Es gibt übrigens noch eine dritte, sehr poetische Ebene. Zwischen den Teilen der Erzählung lesen wir eine fantastische Geschichte über eine völlig versalzene, unwirtliche Insel. Wie dieser mysteriöse Text zum Rest des Buches passt? Das wird uns überlassen. Ich denke, es handelt sich um Nadjas Text aus der Kindheit von Esthers Vater. Wer ist Nadja? – Das müssen Sie selbst herausfinden.

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Zur Autorin

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde. (Verlagstext)

Kein Teil der Welt : Roman / Stefanie de Velasco. – 1. Aufl. – Kiepenheuer & Witsch: Köln, 2019. – 429 S. – ISBN 978-3-462-31731-2

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

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