Buchtipp,  Ratgeber

Sonja Vukovic – Gegessen

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Im Herbst bin ich auf „gegessen“ von Sonja Vukovic aufmerksam geworden und habe es mir als Rezensionsexemplar erbeten. Ich dachte an die Zielgruppe der jugendlichen Leser und Leserinnen in unserer Bücherei. Gerade in der Pubertät haben ja viele Probleme mit ihrer Selbstwahrnehmung, vergleichen sich ständig mit ihren Klassenkameraden und geraten da auch schon mal auf Irrwege wie Magersucht und Bulimie. Dann habe ich die Lektüre vor mir hergeschoben. Da ich wusste, dass die Autorin ihre eigene Geschichte aufgeschrieben hat und vorher ein Buch über Christiane F.  veröffentlicht hatte (s.a. F.Foundation), befürchtete ich drastische Schilderungen aus einem abstoßenden Milieu. Andere, vermeintlich sanftere Bücher lagen noch auf meinem Stapel ungelesener Bücher und lockten mich mehr. Dann kam die Buchmesse, Zeit verging…

Ich nahm also erst kürzlich das Buch wieder zur Hand und wurde zunächst in meiner Befürchtung bestätigt: gleich zu Beginn eine ziemlich ekelige Beschreibung von Erbrechen und Sauerei im Badezimmer, von der Autorin mit „Prolog“ überschrieben.

Doch dann wurde ich vom Buch regelrecht überrascht – und wiederum auf ganz andere Weise verstört. Hier ist eine junge, hübsche Frau mit einem halbwegs normalen Elternhaus, deren Leidenschaft es ist, zu schreiben. Schon in der Schule jobbt sie als Lokalreporterin für die „Rheinische Post“ und bekommt ein Bundesstipendium für ein Austauschjahr in den USA. Dort ist sie just im September 2001 und wird gebeten hautnah zu berichten, wie die Amerikaner das Attentat in New York erleben. Eine ganz normale Jugendliche also mit wunderbaren Aussichten, etwas sinnvolles und erfüllendes mit ihrem Leben anzufangen.

Und währenddessen frisst und kotzt sie heimlich, weil sie glaubt, sie könne so ihren unbändigen Hunger nach wer weiß was stillen und gleichzeitig schlank bleiben. Sie begibt sich in eine Therapie und später sogar in eine geschlossene Wohngruppe, um gegen ihre Störung anzukämpfen. Aber so wirklich gesteht sie sich selbst nicht ein, dass etwas zutiefst falsch läuft. Man ahnt, dass es etwas mit der unheilvollen Beziehung zu ihrem Sportlehrer zu tun hat, zu dem sie schon mit 13 ein Vertrauensverhältnis aufbaut, welches dieser schamlos sexuell ausnutzt. Sie wird ihm hörig und findet selbst keinen Weg aus dieser Falle. Das einzige, was sie kontrollieren kann, ist ihr Gewicht und Essverhalten.

Nach einem Umzug nach Berlin, wo sie ein Volontariat beim „Spiegel“ antritt, während sie ein Studium bei der Fernuni Hagen beginnt, lernt sie wieder einen Mann kennen, mit dem nun alles anders scheint. Aber auch hier wird sie in ganz anderer Weise ausgenutzt und merkt es nicht.

Ihre Eltern helfen ihr, den Sportlehrer zu verklagen. Ein mühevoller und aufreibender Gang durch mehrere Instanzen. Aber erst durch eine Reportage zum Thema Sucht und ihre journalistische Frage „Was macht eigentlich Christiane F.?“, dringt sie zum Kern ihres Problems vor. Sie kann sich endlich von ihren Ängsten und ihren Süchten befreien, indem sie sie annimmt und sich zu ihnen bekennt. Sie lernt in dieser Phase ihres Lebens endlich einen Mann kennen, der sie nicht ausnutzt und mit dem sie eine kleine Tochter bekommt. Auch mit ihrem Vater, der selbst Alkoholiker ist, kann sie eine neue Beziehung aufbauen.

Ein tolles, aufrüttelndes Buch für Jugendliche – aber nicht nur. Auch und gerade für Menschen wie mich, die sonst nichts mit diesen Themen zu tun haben, ist es ein wichtiges Beispiel für Verdrängung, Wegsehen, Verharmlosung von Nöten junger Menschen. Wir sollten mehr auf die kleinen Anzeichen von krankmachender Angst schauen. Selbst Jugendliche in scheinbar intakten Verhältnissen sind betroffen.

Und wir lernen auch: jede Sucht ist eine Krankheit und kein Charakterfehler!

gegessen : wer schön sein will, muss leiden, sagt der Schmerz … / Sonja Vukovic. – Lübbe, 2016. – Originalausg. – 284 S.; Fotos. – ISBN 978-3-7857-2577-1 kartoniert, 15 €

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

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