Buchtipp

„Tierchen unlimited“ von Tijan Sila

9783462050264
Gestaltung Rudolf Linn, Köln

Irreparabel unglücklich und extrem gut gelaunt

„Die Geschichte eines Jungen im bosnischen Bürgerkrieg, seiner Flucht nach Deutschland und des Lebens unter deutschen Neonazis. Wild, bedrückend genau und dabei hoffnungsvoll komisch erzählt Tijan Sila von einem jungen Mann, für den Grenzen nur existieren, um sie zu übertreten.“ Soweit der Rückentext des Buches.

Ich bin auf „Tierchen unlimited“ aufmerksam geworden, weil es von einem jungen Mann handelt, der in Bosnien seine Kindheit verbrachte und 1994 mit seinen Eltern nach Deutschland emigrieren konnte, wie so viele damals. Ich erinnere mich gut an die Zeit – meine Kinder waren noch klein – als es plötzlich nicht mehr Jugoslawien hieß, sondern es wichtig war, ob man aus Serbien oder Bosnien oder Kroatien stammte. Da ich auch heute wieder Kontakt zu jungen Menschen von dort habe, erschien es mir wichtig, einmal von jemandem zu lesen, der ähnliches erlebt haben musste.

Es ist ein schönes Buch! Sowas nennt man gemeinhin sorgfältig editiert, mit einer wunderschönen Umschlaggestaltung von Rudolf Linn in schwarzweiß und einem roten Lesebändchen. Obwohl, es hat gar keinen Umschlag. Das Motiv ist direkt aufs Buch appliziert, wenn man mit dem Finger über das kleine Fahrrad streicht, fühlt man es. Ein kleines haptisches Ereignis.

So weit so schön. Nachdem ich das kleine Büchlein genug gefühlt und hin- und hergedreht hatte, weil es wirklich schön ist, habe ich mich ans Lesen gemacht. Ebenfalls auf dem Rücken des Buches wird Feridon Zaimoglu zitiert „Hart, mitreißend und wahr: an einem Tag weggelesen, schallend gelacht!“

Nun, ich habe vielleicht drei Abende gebraucht und schallend lachen konnte ich auch nicht. Gleich zu Beginn begleitet man den jungen Icherzähler, leider habe ich seinen Namen nicht herausfinden können, als er völlig vermöbelt, nackt auf einem Fahrrad durch die Nacht flieht. Die Frau, mit der er die Nacht verbringen wollte, hat einen Bruder, der Neonazi ist und Ausländer im Zimmer seiner Schwester nicht duldet. Er landet schließlich im Krankenhaus. Erniedrigt, weil er alle Untersuchungen nackt über sich ergehen lassen muss, mit gebrochener Nase und blaugeschwollenen Geschlechtsteilen, rät der Notfallarzt ihm, es einmal mit Kung Fu zu versuchen, damit er sich das nächste Mal besser wehren kann. Das erinnert ihn an Sarah, die er kennengelernt hatte, kurz nachdem er in Deutschland angekommen war. Sie trainierte hart im Freistilringen, um auf Bundesligaebene kämpfen zu dürfen. Ihr Berufswunsch: Polizistin.

Und schon sind wir mitten in den Erinnerungen unseres „Helden“, der von seiner Grundschulzeit in Sarajewo erzählt, dann wieder zu seinen Freundinnen in Deutschland springt, die fast alle einen Bruder haben, der Neonazi ist oder war. So auch Sarah, deren Vater sich das Leben genommen hatte, nachdem man seinen „Neonazi-Sohn“ in Bosnien getötet hatte. „Dieser Idiot war runtergefahren, um auf kroatischer Seite gegen Moslems und Slawen zu kämpfen.“ So verquicken sich die Schicksale und die Erinnerungen.

Sehr gut gefallen, haben mir die Schilderungen der Zeit in Sarajewo. Wie er dort in seinem Viertel Čengić Vila mit Stromausfällen, Freundschaften und dem dort herrschenden Ehrenkodex unter Jungs zurechtkommt. Der Blick auf die Erwachsenen und die Zeiten in Luftschutzunterkünften und unter Bombenbeschuss sind sicher gut beobachtet. Ein wenig erinnern mich die Umstände an Franz-Josef Degenhards Roman „Zündschnüre“. Auch dort gibt es während der Kriegshandlungen eine geheime Parallelwelt der Kinder.

Die Zeit in Deutschland fällt zusammen mit dem Erwachen der Neugierde für das andere Geschlecht. Das ist sicher für jeden Jungen ein besonderer Moment im Leben, hier gibt es aber nicht nur ein vorher und nachher von Kindheit und Jugend, sondern auch die geographische Grenze.

„Ich war ein Kind Jugoslawiens und von der Richtigkeit und Absolutheit meiner Eltern weit stärker überzeugt, als es ein deutsches Kind hätte sein können. […] Heute blicke ich ratlos auf unsere Emigration. Was für ein Gehirnfurz.“ Die Eltern, die in Bosnien als Akademiker gute Chancen auch nach dem Krieg gehabt hätten, gehen stattdessen in ein Deutschland, wo ihre Fähigkeiten und ihre Studien nicht anerkannt werden. Und für ihn hat es ebenso fatale Folgen. „Wären wir in Bosnien geblieben, hätte man mir als Kollegenkind bestimmt einen Doktortitel mit dazugehöriger Dozentur nachgeworfen. Ich wäre ein Akademiker in einem Land gewesen, das von Menschen verlassen wird, sobald sie in der Lage sind, ein Buch von Wolfgang Hohlbein zu lesen.“ (Hier musste ich dann doch lachen.)

Auch die Flucht beschreibt Sila sehr anschaulich und abschreckend. Zuerst müssen sie durch einen engen Tunnel aus Sarajewo herauskriechen, um dann tagelang in einem überfüllten Bus auf menschenunwürdige Art und Weise bis nach Kroatien zu gelangen. Von Zagreb aus, wo sie eine Woche bei Freunden untergekommen sind, geht es dann problemlos weiter nach Deutschland.

Hier wird die Erzählung wild. Es geht um Mädchen, ums Studium, um Einbrüche, um Neo-Nazis. So wirklich habe ich es nicht verstanden. Es erschließt sich mir nicht ganz, warum er ausgerechnet in ein solches Milieu kommen musste. Im Buch macht es fast den Eindruck, als ob Deutschland genau so wäre für einen Bosnier. Er studiert und anstatt zu jobben, bricht er in Wohnungen ein, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen – immer in Komplizenschaft mit Frauen, die großen Einfluss auf ihn haben. Auch Sarah, die Polizistin geworden ist, taucht wieder auf und hilft ihm. Das alles ist für meinen Geschmack sehr verwirrend geschildert. Wenn es um Prügeleien geht, erinnert mich die Geschichte an „Hool“ von Philipp Winkler.

Fast scheint es, als wäre es auch dem Autor zu undurchsichtig geworden. Es gibt einen Epilog, in dem unser Protagonist aus einem gewissen Abstand nach dem erfolgreichen Studium der Bibliothekswissenschaft einen Arbeitsplatz in einer abgelegenen Bibliothek sucht, um der Pflicht zu entgehen, seine mittlerweile an Alzheimer erkrankten Eltern pflegen zu müssen. Auch hier wieder ziemliches Durcheinander. „In meinem Leben herrscht Chaos! Was erwartest du?“ Der letzte Satz des Textes ist für mich bezeichnend und Erklärung genug: „In einem Moment halben Bewusstseins verstand ich, dass ich schlief und träumte.“

Tierchen unlimited. Roman / Tijan Sila. – 1. Aufl.  – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017. – fest gebunden, 222 S. – ISBN 978-3462-05026-4  18,00 €

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Nachtrag April 2017:

Bei KulturErnten habe ich eine weitere Besprechung gefunden, die mir sehr gut gefällt.

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

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