„Daran sollten wir uns erinnern
Franz Hohler im Vorwort zu „Verbotene Kinder“ (s.u.)
dass die Geschichte unseres glücklichen Landes
voll ist von Geschichten unglücklicher Kinder.
Lest diese wahren Geschichten und täuscht euch nicht:
Die nächsten verbotenen Kinder sind schon unterwegs
oder sind bereits da mit falschem Papier
und richtigen Herzen. „
Im Zuge meiner eher zufällig ausgesuchten Lektüre – sie sollte einen Bezug zu Italien haben – ist mir das Buch von Vincenzo Todisco in die Hände gefallen. Der Rotpunkt-Verlag in Zürich hat es mir dankenswerter Weise zur Rezension geschickt. Es stellte sich heraus, dass der Autor als Sohn italienischer Einwanderer in der Schweiz geboren wurde und „Das Eidechsenkind“ auf Deutsch verfasst hat.
Der Klappentext sprach von einem Gastarbeiterschicksal in der Schweiz. Ein italienisches Ehepaar arbeitet zuerst saisonal, später ganz in der Schweiz. Ihren Sohn lassen sie bei der Großmutter in Italien, holen ihn aber später verbotenerweise in die Schweiz nach.
“Das Eidechsenkind ist in Italien daheim und im Gastland zu Hause. Hier muss es sich verstecken: unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. In Ripa hingegen rennt der Junge wie alle Kinder dem Ball hinterher, jagt draußen den Wespen nach, gleitet von einer Umarmung in die andere. Dort, bei Nonna Assunta, wo ein Haus darauf wartet, fertig gebaut zu werden.”
Klappentext
Spröde, kurze Sätze
Der Text hat mich zuerst nicht sehr angesprochen, ich hatte Mühe mich in den Rhythmus der kurzen Sätze einzufinden. Die lakonischen Sätze über das Kind, welches später das Eidechsenkind genannt wird, waren mir zu spröde.
Heimlich entstehen rührende Freundschaften
Doch dann wurde ich immer mehr in die kleine Hausgemeinschaft mit hineingezogen. Zuerst fand ich die Idee des Autors interessant, dass sich ein Kind, welches sich illegal in einem Land aufhält, lernt, sich vollständig wie eine Eidechse in Nischen und Ritzen zu verstecken und unbeweglich zu warten. Dann war es faszinierend zu sehen, wie es sich ein ganzes Haus, verschiedenste Nachbarwohnungen und nachts auch das Draußen zu eigen machte. Wie das namenlose Kind im Haus Freundschaften schloss, obwohl es immer in Gefahr stand, vom Hauseigentümer und Chef des Vaters erwischt zu werden. Das hätte bedeutet, dass die ganze Familie zurück nach Italien geschickt worden wäre.
„Nächstes Jahr gehen wir zurück!“
„Es ist das Jahr 1961, und hier beginnt ihre Rechnung. Sie geben sich fünf Jahre Zeit, dann wollen sie genug Geld verdient haben und wieder nach hause fahren. Das Kind wollen sie schon bald nach Ripa zurückbringen, dass es so lange bei Nonna Assunta bleiben kann.“
(S. 11)
Zuhause in Italien baute der Vater in den arbeitsfreien Zeiten ein Haus, wohin die kleine Familie zurückkehren wollte, sobald sie genug Geld verdient hätten. Doch der Tag kam nie. Der Junge wurde größer, passte nicht mehr unter die Bank, unter der er sich verstecken musste, wurde ein Jugendlicher und bald auch ein junger Mann.
Ein Leben im Schrank und unter der Bank
Im Nachhinein haut die Geschichte mich um. Hellhörig wurde ich, als in einem Nebensatz davon gesprochen wird, dass es noch mehr klandestine Kinder gibt. Ich habe recherchiert:
die Geschichte ist mitnichten ausgedacht, sondern erzählt exemplarisch das Schicksal tausender Kinder, die seit der Nachkriegszeit bis in heutige Tage als so genannte „Kasten-Kinder“, als verbotene Kinder, in der Schweiz ein entwürdigendes Leben führen mussten. Heimlich, eingesperrt in ein paar Zimmer, ohne Freunde, ohne Spiele im Freien, ohne Schulbesuch. Sie wurden ihrer Kindheit und Jugend komplett beraubt und leiden bis heute unter der seelischen Misshandlung.
Ihre Eltern können meist nichts dafür. Schuld ist das so genannte Saisonnierstatut der Schweiz, welche Gastarbeiter ins Land holte, ohne das Recht, ihre Familie nachzuholen. Die Ehefrauen konnten nur nachziehen, wenn auch sie Vollzeit in den Fabriken arbeiteten. Kinder waren nicht erlaubt. In den ersten vier Jahren durfte nur neun Monate pro Jahr in der Schweiz gearbeitet werden, später konnten sie das ganze Jahr bleiben. Wer seine Kinder nicht bei Verwandten unterbringen oder ins Heim geben wollte, nahm die Kinder heimlich mit. Die Arbeitsbedingungen waren streng. Der Arbeitsplatz durfte nicht gewechselt werden, wer arbeitsunfähig wurde musste zurück. Eine Krankenversicherung bestand nicht.
Dieses Saisonnierstatut war geltendes Recht in der Schweiz bis 2002. Seit 2014 wird wieder versucht, ein ähnliches Instrument gegen Masseneinwanderung einzusetzen. Auch in Deutschland ist Menschen bestimmter Herkunftsländer oder mit bestimmtem Aufenthaltstitel der Familiennachzug untersagt. Was man den Kindern und Familien damit antut, kann man bei Todisco lesen und verstehen.
Das Ende der anrührenden, betroffen machenden Geschichte ist offen. Auch dadurch lässt sie einen so schnell nicht los.
Links zum Weiterlesen: Kastenkinder-versteckt-und-alleingelassen
Saisonniers-das-trauma-der-verbotenen-kinder
Gerade wird bekannt, dass Vincenzo Todisco mit „Das Eidechsenkind“ für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert wurde. Gratulation!
Über den Autor
Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor; Das Eidechsenkind ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch. (Verlagstext)
— Nachtrag am 20.09.2018 —
Überraschungsautor aus Graubünden (Schweizer Buchpreis)
Eine mutige Auswahl mit Entdeckungen. Dass die Buchpreis-Jury ihre Auswahl nicht nach den Zeitungskritiken richtet, zeigt eine Entdeckung: Aus den von den Verlagen eingereichten 85 Titeln hat sie auch zwei Überraschungstitel nominiert. Mit Ausnahme des «Bündner Tagblatts» hatten alle Zeitungen den Roman «Das Eidechsenkind» des 1964 geborenen Vincenzo Todisco übersehen. Todisco wohnt in Rhäzüns und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Graubünden. «Das Eidechsenkind» ist sein erstes auf Deutsch geschriebenes Buch. Die Nomination für den Buchpreis hebt ihn nun auf die nationale Bühne – auch wenn man seinem bewegenden Roman über einen illegal eingewanderten Jungen, der sich in der Wohnung seiner Eltern verstecken muss, wohl nur Aussenseiterchancen einräumen darf. (St. Galler Tagblatt Hansruedi Kugler 18.9.2018, 18:26 Uhr)
2 Comments
Daniela | Livricieux
Hallo Erika
Eben bin ich bei meinen Recherchen zum Schweizer Buchpreis auf die Geschichte von Vincenzo Todisco gestossen und plopp! ist da deine Besprechung in meinem Newsfeed. 🙂
Vielen Dank für deine Worte zum Buch. Ich war nämlich schon am hin und her überlegen, welchen der Nominierten ich mir als erstes zu Gemüte führen werde. Nun weiss ich es. 🙂
Grüessli, Daniela
Erika von Litblogkoeb
Hallo Daniela,
vielen Dank für den Hinweis. Den Schweizer Buchpreis hatte ich noch gar nicht beachtet. Auf jeden Fall ist das Buch sehr lesenswert. Schreib mir, wie es Dir gefallen hat.
Gruß, Erika