Intimleben. Roman. Niccolò Ammaniti
Buchtipp,  Gastland Italien

Intimleben / Niccolò Ammaniti

aus dem Italienischen von Verena von Koskull
„Die Angst endet dort, wo die Wahrheit beginnt.“
Cover

Ammanitis Grundthema ist wie immer die Angst. Unsere tiefsitzende Angst vor dem Verlassenwerden, dem Betrug vermeintlich geliebter Menschen an uns, überhaupt die Angst, nicht mehr geliebt zu werden – und sei es von der Gesellschaft.

In seinen Büchern „Io non ho paura“ (Ich habe keine Angst), „Ti prendo e ti porto via“ (Ich kriege Dich und bringe Dich fort*) kommt dieses Unbehagen schon im Titel zum Ausdruck.

Dieses Mal also „Intimleben“, wobei im italienischen „La vita intima“ noch mehr mitschwingt. Es geht hier wirklich ums Leben, und zwar ganz intim. Natürlich auch um Sex, aber das ist nur der Auslöser, worum sich die Angst aufbaut. Gerade im Intimsten sind wir am verletzlichsten.

Der Plot

„Diese Geschichte beginnt an einem Mittwoch des vergangenen Jahrzehnts …“

(1. Satz)

Schauplatz ist die Politikszene Italiens hinter den Kulissen. Quasi sind wir beim Ministerpräsidenten zu Hause.

Die Protagonistin ist Maria Christina Palma – im Netz sogar als „die schönste Frau der Welt“ bezeichnet. Sie will als Präsidentengattin alles richtig machen. In diese Rolle ist sie durch den Aufstieg ihres Mannes unfreiwillig geraten und hat nun mit allen Vor- und Nachteilen zu kämpfen.

Nach der ersten Szene – ja, ich sehe schon das Drehbuch für den Film vor mir, zumal Ammaniti auch Regisseur ist – meint man alle Klischees des dummen aber schönen Politikerweibchens zu erkennen und macht sich auf das „Durch-den-Kakao-Ziehen“ der politischen Klatschwelt gefasst. Wird es ein typischer Paparazzi-Roman? Spielt das Buch im Milieu der Schönen und Reichen mit viel „Bunga Bunga“? Fast scheint es so.

Doch Maria Christina wird in jeder Szene zugänglicher. Sie wird menschlich in all ihren schweren Schicksalsschlägen, die sie seit ihrer Kindheit auszuhalten hatte.

Die Hauptfigur

Ammaniti, der sich im Text immer mal wieder als Autor direkt an uns wendet, gibt ihr ein ganz persönliches Gesicht; sie wird uns von Seite zu Seite vertrauter.

Wenn ihr ein Leid geschieht, sorgt sie sich um diejenigen, die es ihr zugefügt haben. Alles Schlimme, das ihr vom Leben auferlegt wird, kleinzureden und so ihre Mitmenschen zu beschwichtigen, ist eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften.“

(Deutsche Übersetzung von Verena von Koskull)

Maria Christina ist mittlerweile über 40 und bangt um ihr Äußeres, leidet unter dem Klatsch und den nicht immer schmeichelhaften Kommentaren in den sozialen Medien.

Der Twist

Als sie auf einer der meist langweiligen und anstrengenden Abendveranstaltungen einen Freund aus unbeschwerten Jugendtagen wiedersieht, freut sie sich, einen Menschen zu treffen, der in ihr nicht nur die Premiersgattin sieht.

Sie treffen sich, sie schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen, die zwanzig Jahre zurückliegen.

Als er ihr nicht nur Fotos von damals aufs Handy schickt, sondern ein gemeinsam gedrehtes Pornofilmchen, gerät sie in Panik.

Jetzt wird’s spannend

Spätestens ab da habe ich mitgefiebert, habe ich die Protagonistin durch alle seelischen Tiefen begleitet. Hier wird „Intimleben“ zum Pageturner und bleibt es bis zum überraschenden Schlusskapitel.

Mehr kann ich nicht verraten, ohne den Spaß am Selberlesen zu verderben. Und ein Spaß ist es wirklich.

Ammaniti versteht sich wie immer auf herrlich farbenfrohe Beschreibungen und kennt anscheinend alle menschlichen Abgründe und Emotionen.

Gerade auch in den vielen Nebenfiguren, die alle zum intimen Leben Maria Christinas dazu gehören – die Leibwächter, ihr Fitnesstrainer, ihre Tochter Irene, ihre indianische Friseurin, ihr unsterblich in sie verliebtes Faktotum, der mysteriöse Berater im Hintergrund – alle spielen eine wichtige Rolle in diesem Entwicklungsroman, der gerade mal eine Woche erzählte Zeit umfasst.

Herrlich! Ein Lesevergnügen mit Tiefgang und moralisch ausgesprochen lehrreich – denn die Angst endet dort, wo die Wahrheit beginnt.

Über den Autor und die Übersetzerin

Niccolò Ammaniti, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Sein Weltbestseller Ich habe keine Angst gewann den Premio Viareggio, sein Roman Wie es Gott gefällt den Premio Strega. All seine Bücher wurden von international herausragenden Regisseuren für das Kino verfilmt. Auch Ammaniti selbst ist als Regisseur tätig. Er machte Furore mit der TV-Serie Ein Wunder, für die er auch das Drehbuch schrieb. Seinen dystopischen Roman Anna verfilmte er als Mehrteiler fürs Fernsehen. Nach längerer Schreibpause erscheint nun sein neuer Roman Intimleben. Niccolò Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau in Rom.

Verena von Koskull arbeitete nach ihrem Studium der Italianistik und Anglistik in Verlagshäusern in Italien und Deutschland. Heute übersetzt sie Literatur aus dem Italienischen und dem Englischen. Für ihre Übersetzung des Romans Die katholische Schule von Edoardo Albinati erhielt sie 2020 den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis. 

(Verlagsangaben)

Ammaniti, Niccolò:
Intimleben : Roman / Niccolò Ammaniti; aus dem Italienischen von Verena von Koskull. – München : Eisele Verlag, 2023. – 363 Seiten
Einheitssacht.: La vita intima
ISBN 978-3-96161-169-0 festgeb.: EUR 24.00

https://www.eopac.net/oedekoven/medium/intimleben/

https://eisele-verlag.de

*Fort von hier“ ist der Titel der deutschen Ausgabe

Angst und Wahrheit. Niccolò Ammaniti: La Vita Intima – Intimleben – Rezension

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

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