Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
„Die dabei gewesen sind, die letzten, die ihn noch gesehen haben, Bekannte durch Zufall, sagen, daß er an dem Abend nicht anders war als sonst, munter, nicht übermütig.“ Erster Satz von M.Frisch „Mein Name sei Gantenbein“ Suhrkamp, 1974 (meine Ausgabe)
Mein Klassiker also. Wer käme bei der Frage nach seinem Klassiker schon auf den Gantenbein? Sicher – auch ich hätte viele im Gepäck, von denen ich glaubhaft schreiben könnte. Thomas Mann hat in mir die Faszination von Sprache geweckt („Das Gesetz“), Doris Lessing meine Haltung zum Feminismus herausgefordert („Das goldene Notizbuch“), Virginia Woolf fragte mich nach meinem eigentlichen Geschlecht („Orlando“), Hermann Hesse hat mich zutiefst verwirrt („Der Steppenwolf“). Das könnte ich noch fortführen.
Aber der Gantenbein ist und bleibt „mein Klassiker“.
Ich habe ihn mit 17 getroffen – äh, gelesen. Schullektüre – na klar. Was dieses Buch bei anderen deswegen per se disqualifizierte, hat mich nicht abgeschreckt. Es schien zu mir zu sprechen, mich zu kennen.
Dabei ist es ein Männerbuch! Ein männlicher Autor schreibt über einen Mann, der sich die mögliche Geschichte eines anderen Mannes zusammenfabuliert. „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er eine Geschichte dazu…“
Was hat das mit mir zu tun? Einem 17jährigen Mädchen? Der Begriff „Frau“ passte damals noch nicht zu mir.
Zuerst einmal gefiel mir die Sprache. Ich las bei einem berühmten Autor, wie man assoziierend aus Wörtern Bilder formt, schreiben kann, ohne einen Gedanken zu Ende führen zu müssen. Das konnte ich sicher auch. Mein Leben schreibend formen. Ich war nicht ein Mann mit Erfahrung, zu der er sich eine passende Geschichte konstruieren muss, sondern ein Mädchen am Beginn eines Lebens, das sich aus Geschichten eine mögliche Identität zusammenreimen könnte. Darum ging es mir. Ich verfolgte Gantenbein mit offenem Mund und stellte mir vor, dass ich meine Geschichte auch schon vorweg ausdenken könnte. Eine erstaunliche Erlösung in einer pubertären Hilflosigkeit – nicht Fisch, nicht Fleisch – noch nicht entschieden. Wer bin ich denn? Wer könnte ich sein? Mein Name sei Gantenbein? War es so einfach?
„Es ist wie ein Sturz … wie durch alle Spiegel, und nachher … setzt die Welt sich wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Es ist auch nichts geschehen.“
Wenn ich das Buch jetzt nach mehr als 30 Jahren wieder hervornehme und darin einzelne Passagen lese, kann ich einerseits die Faszination der 17jährigen verstehen, andererseits den Kopf schütteln über die verschwurbelten Altmännerfantasien des Icherzählers. So ein Text dürfte heute nicht mehr so geschrieben werden.
Und dann die Liebe! Frisch erzählt von Liebe in vielerlei Facetten. Das wird mich genauso begeistert haben, ich weiß es nicht mehr genau.
Wichtig, damals und auch heute noch, ist mir geblieben, dass man Geschichten erzählen, fabulieren, alle Möglichkeiten zu Ende denken kann – und dann auch einfach wieder abbrechen darf, wenn man mit einer Geschichte nicht weiterkommt. Alles erlaubt in der Literatur – und im Leben. Max Frisch hat mir durch diesen Text eine unerhörte Freiheit geschenkt.
Deshalb ist es #MeinKlassiker.
One Comment
SätzeundSchätze
Max Frisch hat mir durch diesen Text eine unerhörte Freiheit geschenkt – was für eine schöne Würdigung! Den Gantenbein habe ich gar nicht mehr so sehr in Erinnerung, bei mir war eher mit 17 der „Homo faber“ eine Art Erweckungserlebnis: Es war die Sprache Frischs, die mich gepackt hat und die ich bis heute genieße. Einer in seiner trockenen Sachlichkeit in den Fußspuren Brechts (bald eigene Wege betretend). Ich danke dir für deinen sehr schönen Beitrag!
Liebe Grüße Birgit