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Tina (Über mir die Sonne) / Alessio Torino

Tina - Coverfoto "Über mir die Sonne" - Hoffmann & Campe
Coverfoto „Über mir die Sonne“ – Hoffmann & Campe

Der deutsche Titel „Über mir die Sonne“ und ein Mädchenkopf mit wehenden Haaren auf dem Cover suggeriert ein leichtes Sommerbuch zur Unterhaltung. Der im Italienischen durchaus erfolgreiche Titel „Tina“ wäre bei deutschen LeserInnen vielleicht gar nicht angekommen. Wer weiß? Das sind Überlegungen des Verlags, die wir nicht vollends durchschauen.

Schauplatz, Bühne und Darsteller

Die achtjährige Tina ist jedenfalls die Hauptperson dieses „Sommerbuchs“. Sie verbringt mit ihrer Zwillingsschwester Bea und ihrer Mutter den Sommer auf der Insel Pantelleria. Ihr Vater Sergio ist mit seiner jungen Klavierschülerin Laura in Urbino geblieben. Die Ehe scheint vor dem Aus.

Während Bea sich ihrer Weiblichkeit schon sehr bewusst ist und versucht, damit zu kokettieren, weiß Tina noch nicht, wohin die Reise geht. Sie wird von den meisten für einen Jungen gehalten.

„Tina. Mit diesem unentrinnbaren a. Ihr kam der Verdacht, dass ihre Mutter es absichtlich tat: So konnte sie der ganzen Cala und dem Bar-Restaurant Alta Marea verkünden, dass Signora Ottaviani aus Urbino zwei Töchter hatte.“

Tina beobachtet sehr genau die Welt der Erwachsenen und macht sich aus ihrer noch kindlichen Sicht einen Reim auf das teilweise merkwürdige Verhalten der Menschen.

Alessio Torino hat hier ein Setting gewählt, das sich für ein Kammerspiel eignet. Eine weit abgelegene Insel ohne Strand, ein Eiland, welches näher an Afrika als an Europa im ionischen Meer schwimmt. Weiter draußen geht fast nicht mehr. Das Meer unterhalb der Felsen wird in diesem Sommer von einer Quallenplage heimgesucht. Wegen des Maestrale, einem Wind, der auf dem Meer zu sehr hohen Wellen führt, kann die Fähre aus Trapani eventuell nicht anlegen. Ein geschlossener Raum, in dem eine kleine Schar ziemlich unterschiedlicher Couleur agiert.

„Kannst du dir das vorstellen, zwischen diesen Verrückten festzusitzen? Und wenn ich an die Leute von der Fähre denke …“

Gesellschaftlicher Mittelpunkt ist das „Alta Marea“, das von Andre geführte kleine Restaurant, welches außerdem die Basis der Tauchschule „Orca“ ist. Andre kommt eigentlich aus der Toskana, bezeichnet sich aber als Wahlkorse.

„Andre stammte eigentlich aus Carrara in der Toskana, aber bevor er nach Pantelleria gekommen war, hatte er drei Jahre auf der französischen Insel gelebt. Er hatte Korsika verlassen müssen, weil er, so hatte er es ihr erzählt, da große Dummheiten angestellt hatte.“

Hier treffen wir auch Charles, der eigentlich aus Kanada kommt, und mal Agent für Opernsänger gewesen war. Er verbringt die Zeit mit Schlafen und Trinken – er will etwas vergessen, das für ihn sehr schwer wiegt.

„Charles war der Sonderbarste von allen, die regelmäßig ins Alta Marea kamen. Er stammte aus Kanada, er trank, und bei Sonnenaufgang fand Andre ihn oft auf der Terrasse, wie er mit dem Kopf auf dem Tisch schlief.“

Dann sind da noch Stefano (ein echter Korse) und Parì, …

„eine Profi-Schwimmerin, die an den nächsten Olympischen Spielen teilnehmen würde. Er war ein Freund von Andre und hatte aus irgendeinem Grund einen italienischen Namen.“

Diese beiden werden zum besonderen Studienobjekt der beiden Schwestern, was die körperliche Liebe betrifft. Vor allem Bea fühlt sich sehr zu Stefano hingezogen und testet an ihm ihre aufkeimenden Reize.

In einem guten Theaterstück braucht man auch einen Fiesling. Diese Rolle wird von Signor Pagliaro, dem Besitzer des Lebensmittelladens, übernommen. Er zieht gerne über alle her und ist deshalb auch die Informationsbörse des Ortes. Wirklich böse ist er nicht.

Außer den schon genannten Charakteren gibt es auch Statisten, die von Torino nur mit „ein älteres Ehepaar aus Parma“ oder „eine Frau“ genannt werden.

Worum es geht

Tina - Cover
Tina – Cover der italienischen Ausgabe

Isola ist das italienische Wort für Insel. Da klingt Isolamento, isoliert sein mit. Die handelnden Personen sind von ihren normalen Lebensumständen getrennt. Alle warten irgendwie auf etwas oder wollen etwas vergessen. Während die Mädchen noch in einem Schwebezustand zwischen Kindheit und Pubertät stecken, scheinen auch die anderen bei irgendetwas festzusitzen. Ob sie nun wortwörtlich nicht von der Insel herunterkommen oder im übertragenen Sinne festhängen. Alessio Torino versetzt uns mit der Lektüre ebenso in diesen Schwebezustand. Es geht um Identitätsfindung, um „Menschwerdung“ an einem Nichtort, einem Niemandsland am Rande der wirklichen Welt, einer Insel ohne Strand. Wunderbare Charakterstudien, über die wir lange nachdenken und deren Geschichte wir gerne weiterspinnen.

Es ist eine kurze aber sehr dichte Geschichte, angefüllt mit Stille, Auslassung und Fragezeichen. Die Entschlüsselung überlässt Torino seinen LeserInnen.

Ein zweites und drittes Lesen lässt uns immer mehr entdecken. Wir lernen sogar vieles über Kapern. Sie können alles sein: „ein Streicheln, ein Schmuck, ein Kosename, eine Frucht, ein Verzicht, ein Tattoo und eine Waffe.“ (Zitat)

Literarische Anklänge

Ich freue mich immer, wenn es in den Büchern, die ich lese, Anklänge an die Literatur gibt, die den Autor inspiriert. Ob es vom Autor beabsichtigt war oder nicht, ich sehe große parallelen zu Elsa Morantes fantastischem Buch „Arturos Insel“. Auch hier eine „Menschwerdung“ auf einer abgelegenen Insel unter Abwesenheit eines Vaters, der trotzdem eine große Rolle spielt.

Hinweise auf die Charaktere Kezia und Lottie in drei berühmten Erzählungen von Kathrine Mansfield gibt Alessio Torino im Text selbst.

„Sie war nicht wie ihre Mutter und auch nicht wie ihre Schwester. In ihrer Brust schlug das Herz ihres Vaters. Kezia war ihr richtiger Name.“

Genau so wie bei Torino Tina die wichtigere der beiden Schwestern ist, ist es bei Mansfield Kezia. Vor allem die Erzählung „An der Bucht“ hat deutliche Parallelen zu Torinos Text. „“An der Bucht“ ist eine slice-of-life-Geschichte, die ohne viel Handlung auskommt. Die Gespräche und Gedanken der Leute stehen im Vordergrund: Charaktere werden einander gegenübergestellt. Die Kinder haben bereits ihre individuellen Charaktere, die Rolle in ihrem Leben als Erwachsene scheint vorgezeichnet.“ (Zitiert nach Leixoletti.de) Das alles kann man auch über „Über mir die Sonne“ sagen.

Zur Übersetzung

Johannes von Vacano hat die Stimmung des Büchleins sehr gut ins Deutsche übertragen. Wieder einmal muss ich Staunen, wie anders die Feinheiten im Text von professionellen Übersetzern „übertragen“ werden. Meine Übersetzung im Kopf ist immer viel einfacher und unmittelbarer am direkten Wortsinn. Wir dürfen die Leistung eines guten Übersetzers also niemals unterschätzen!

(Tina stand am Ende der zementierten Rampe mit den Schuhen für die Felsen und dem Netz. – Meine direkte Übersetzung beim Lesen – natürlich weder literarisch noch klanglich schön.)

Tina stand in ihren Strandschuhen am unteren Ende der Rampe, den Kescher in der Hand. Sie zählte schon seit einer Weile die Quallen nicht mehr, die sie am Boden zermatschte. Sie lud sie hinter den Steinen ab, die sie auf halber Höhe der Rampe aufeinandergestapelt hatte, damit die Wellen sie sich nicht zurückholten. Im Wasser waren sie fast durchsichtig, während sie auf dem Beton zu rosa Wackelpudding wurden.

Tina era in piedi in fondo allo scivolo di cemento con le scarpe da scoglio e il retino. Già da un po’ aveva perso il conto delle meduse che aveva spiaccicato a terra. Le scaricava dietro la barriera di pietre che aveva costruito a metà dello scivolo per evitare che venissero riprese dalle onde. In
acqua erano quasi trasparenti, mentre sul cemento diventavano del colore di una gelatina alla frutta.

Und hier spielt die Geschichte >> Link

Über mir die Sonne. Roman / Alessio Torino. Aus dem Italienischen von Johannes von Vacano. – Hamburg: Hoffmann & Campe, 2018. – ebook ISBN ISBN 978-3-455-00182-2

Über den Autor

Alessio Torino, geboren 1975 in Urbino, debütierte 2010 mit dem Roman Undici Dedici. Für seine literarischen Werke wurde er u.a. mit dem Premio Bagutta Opera Prima, Premio Lo Straniero und dem Premio Letterario Metauro ausgezeichnet (Verlagstext)

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

2 Comments

  • Franzi

    Huhu liebe Erika, vielen Dank für diese wundervolle Buchvorstellung! Ich liebe Bücher, die in Italien spielen und so eine Art Charakterstudie ist auch immer wahnsinnig interessant, umso besser, wenn es in einem Buch kombiniert ist. Das Buch landet direkt auf der To-Buy Liste, vielen Dank!

    glg Franzi

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