Buchtipp,  Gastland Italien

Unglück ist nicht erwünscht! – Die junge Braut / Alessandro Baricco

Gastland Italien – Folge 7

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Die junge Braut / Alessandro Baricco ©e_mager

Alessandro Baricco ist mit „Die junge Braut“ schon zum zweiten Mal in meiner Reihe „Gastland Italien“ vertreten. Und das aus gutem Grund – ich bin verliebt in seine Sätze und seine skurrile Art. Nachdem im letzten Jahr sein kleines Drama „Smith & Wesson“ auf Deutsch herauskam, kommen wir nun in den Genuss der guten Übersetzung von Annette Kopetzki von „La Sposa Giovane“.

Wer nur Literatur lesen möchte, die realistisch ist und die die herrschenden Verhältnisse kritisch beleuchtet, ist bei Baricco fehl am Platz. Bei den Stimmen zur italienischen Ausgabe finden sich dann auch oft Aussagen wie „Nicht so meins.“, „Konnte ich nichts mit anfangen.“ Die Fraktion der Baricco-Begeisterten, zu der ich ohne Zweifel gehöre, sammelt die wunderschönen Sätze des Autors sogar auf einer eigenen Facebook-Seite.

Beginnen wir zum Beispiel beim ersten Satz:

„Es sind sechsunddreißig Stufen, und der Alte steigt sie langsam hinauf, mit Bedacht, als sammele er sie eine nach der anderen ein, um sie in den ersten Stock zu treiben: er der Hirte, sie fügsame Tiere.“ (S.7)

Lässt man sich auf dieses Bild ein und fügt sich diesem ruhigen Sprachfluss, möchte man das Buch nicht mehr weglegen. Man wird eingelullt in diese bizarre Geschichte eines Hauses, einer Familie, deren Mitglieder nichts so sehr fürchten, wie die Nacht.

„Seit einhundertdreizehn Jahren, das muss erwähnt werden, sind in unserer Familie alle nachts gestorben. Das erklärt alles.“ (S.11)

Nachdem der Hausdiener Modesto die Nacht für beendet erklärt und eine Wetterprognose für den Tag verkündet hat, versammeln sich die Familienmitglieder am „Tisch der Frühstücke“, um mit einem ausgedehnten Brunch das Leben zu feiern. Es ist immer für 25 Personen gedeckt, weil auch Geschäftspartner und Freunde jederzeit dazukommen können.

Die Familie besteht aus Vater, Mutter, Sohn, Onkel und Tochter. Dazu gibt es den Diener Modesto – und später noch die junge Braut. Dies ist der innere Kreis, um den sich weitere Personen scharren: ein Verwalter (Commandini), ein Notar (Bertini), ein Arzt (Acerbo), ein Monsignore… Es fällt auf, dass die wichtigen Personen namenlos sind. Baricco verwendet die Personen wie Spielsteine auf einem Brett. Sie erinnern ein wenig an die Masken der Commedia dell’Arte. Alle sind mit einer ganz besonderen Eigenschaft ausgestattet, die anstelle eines Charakters fungiert. So ist die Tochter zwar bildschön, muss aber wegen eines Unfalls in der frühen Kindheit hinken. Der Onkel schläft Tag und Nacht, beteiligt sich aber erstaunlicherweise vollkommen am Familienleben und äußert zu richtigen Zeit einen weisen Satz. Der Sohn ist abwesend, man vermutet ihn in England und hofft auf seine baldige Rückkehr, denn er soll die junge Braut heiraten. Der Vater hat eine schwache Konstitution und er darf „sich schon aus medizinischen Gründen keine Neigung zu Ängstlichkeit erlauben“. (S.74) Die Mutter hat die Marotte, völlig unzusammenhängende Sachverhalte in einem Satz zu verknüpfen, was der Autor jedesmal in Klammern mit den Worten (viele ihrer Syllogismen waren nämlich unergründlich)“ kommentiert.

Und damit sind wir bei einer weiteren Besonderheit des Romans: der Autor mischt sich fortlaufend ein, kommentiert, unterbricht, erzählt vom Schreiben des Romans. Das macht er allerdings sehr dezent und durchaus zum Roman passend. Ebenso im ersten Moment verwirrend, dann aber nachvollziehbar, wechselt der Autor immer mal wieder von der 3. Person zum Ich, aber nicht, um von sich zu sprechen, sondern um die Figur, die gerade „dran“ ist, persönlich hervortreten zu lassen, als spräche sie nun direkt zu uns.

Aber worum geht es denn nun eigentlich? An einem dieser immer gleichen, glücklichen Tage („sie wussten nichts von der Abfolge der Tage, denn sie strebten danach, einen einzigen vollkommenen Tag zu leben…“ (S.17)), erscheint eine junge Frau, um den Sohn zu heiraten, wie es vor Jahren, als die Liebenden dafür noch zu jung waren, vereinbart wurde. Nun ist sie da, die junge Braut, aber der Sohn nicht. Es wird also gewartet. Die junge Braut zieht ein, lernt die Familie kennen, wartet auf den Bräutigam. Ein ganzes Haus wartet. Währenddessen beschließt der Vater, als erster einer langen Reihe von Vorfahren, nicht im Schlaf zu sterben – und die junge Braut wird ihm dabei helfen.

Hier noch ein paar schöne Sätze:

„Es war, als würde eine zitternde spätnachmittägliche Sommersonne in den mit Parkett ausgelegten Saal fallen und Tanzschritte hervorrufen, die alle in einen gewissen Süden der Seele zurückbrachten.“ (S.31)

„Wissen Sie, man neigt dazu, das Unglück für eine Zeitverschwendung zu halten, das heißt für einen Luxus, den sich noch für eine gewisse Anzahl von Jahren keiner erlauben darf. Irgendwann vielleicht. Das Unglück raubt der Freude Zeit, und in der Freude wird Wohlstand geschaffen. Wenn Sie einen Augenblick lang darüber nachdenken, ist es ganz einfach.“ (S.26)

„Vede, qui si è propensi a credere che l’infelicità sia uno spreco di tempo e quindi una forma di lusso che per ancora un certo numero di anni nessuno si potrà permettere.
Forse un domani.
Ma, per adesso, a nessuna circostanza della vita, per quanto penosa, è concesso di rubare agli animi qualcosa di più di un momentaneo smarrimento.
L’infelicità ruba tempo alla gioia, e nella gioia si costruisce prosperità.
Se ci pensa un attimo, è molto semplice.“

Lesen Sie dieses poetische, kleine Buch! Und wenn Sie dann darüber nachdenken, ist es ganz einfach: Unglück ist nicht erlaubt!   

Die junge Braut / Alessandro Baricco. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. – Hamburg: Hoffmann und Campe, 2017. – 1. Aufl. ; 206 S. – ISBN 9783455405781 fest geb. : 20,00 €

Über den Autor:

Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst, sein Roman Seide wurde zum internationalen Bestseller. Baricco wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. (Verlagstext)

neugierig, wissbegierig, biblioman, non binary

3 Comments

  • Moni2506

    Hey Erika,

    Eine schön Rezension zum Buch, die definitiv auch dazu verführt sich das Buch näher anzuschauen. Letzten Endes wird es wahrscheinlich eher nicht so meins sein, aber es klingt definitiv nach einem interessanten Buch, wenn man etwas damit anfangen kann, wie du so schln schreibst.

    LG, Moni

  • Tintenhain

    Das klingt regelrecht verführerisch, wie Du das schreibst, liebe Erika. Ich könnte mir gut vorstellen, dass dies ein Buch wäre, das unseren Lesekreis reizen würde. Genauso gut kann ich mir vorstellen, dass es die Gruppe in zwei bis drei Lager spalten wird, da wir sehr unterschiedlich lesen. Ich wäre vermutlich in der Gruppe „Tolle Sprache, aber ich kam kaum vorwärts und habe es nicht zum Ende geschafft.“ So geht es mir öfter mal, zum Beispiel bei Nina George oder Kazuo Ishiguro. Das Problem ist oft bei solchen Büchern, dass ich wenig Zeit am Stück zum Lesen habe und manche Bücher brauchen ihre Zeit, um sich in sie hineinzufinden.

    Liebe Grüße,
    Mona

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