In den Traumwelten Neapels
Seit gestern (23.7.) auch auf Deutsch erhältlich ist der Roman aus dem alten Herzen Neapels von Wanda Marasco. Wer sich mit dem besonderen Wesen der Neapolitaner und ihrer Lebenswelten näher beschäftigen möchte, kommt um diesen Roman nicht herum.
Hier kann man in die engen Gassen unter dem so genannten „kleinen Posillipo“ am Hang von Capodimonte eintauchen und die Traumwelten, den Aberglauben und die Seelen der Verstorbenen kennenlernen, die für die Einheimischen, wie mir scheint, immer noch ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens sind.
Im urtümlichen Neapel gibt es fast keine Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Die Ahnen scheinen immer noch zu bestimmen, wo es lang geht.
Das besondere Verhältnis zu den Toten ist mir bei meinem Aufenthalt in Neapel in den Jahren 1999 bis 2001 auf Schritt und Tritt begegnet. Und es waren beileibe nicht nur ungebildete oder arme Menschen, die mit ihren Toten leben.
Wanda Marasco ist 1953 in Neapel geboren und lebt immer noch dort. Sie ist Schriftstellerin und Regisseurin, dies ist ihr erstes Buch auf deutsch. Mit jedem Satz fühlt man: sie kennt das alles, was sie beschreibt. Doch es ist ja gar keine Beschreibung – mir war, als würde ich sofort in eine Traum- und Geisterwelt abtauchen.
Wir erleben eine Familiengeschichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre aus der Sicht von Rosa, der Tochter von Vincenzina und Rafele.
Rosa sitzt im Zimmer ihrer soeben verstorbenen oder noch sterbenden Mutter und spricht sie an. Sie erzählt ihr die Erinnerungen an die ärmliche Herkunft ihrer Mutter vom Lande, wie sie ihren Vater aus besserem Hause in Neapel kennen lernt. Die Erinnerungen und Erzählungen der Vorfahren werden in die Gedankengänge Rosas mit eingeflochten. Und wie Gedanken springen die Bruchstücke der großen Familiengeschichte hin und her.
Einen großen Teil davon nimmt Rosas eigenes Leben in den fünfziger und sechziger Jahren im steilen Viertel rund um die Via dei Cristallini und dem Haus ihrer Großeltern väterlicherseits in der vornehmeren Via Duomo im Zentrum Neapels ein. Neben dem kindlichen Spiel mit Freundinnen und den Begebenheiten in der Schule, muss sie die Mutter beim Geldverleihen im Dienste eines Schutzgelderpressers begleiten. Zwischen Kindern und Erwachsenen wird nicht viel gesprochen, vielmehr muss immer mit Gewalt und Schelte gerechnet werden.
Wenn man sich auf die Erzählung in der ganz besonderen Sprache Wanda Marascos, die immer zwischen Realität, Vorstellungen, Hausgeistern und Traumbildern oszilliert, einlässt, bekommt man einen Eindruck, wie die Menschen Neapels „ticken“. Ich fühlte mich beim Lesen zu den vielen persönlichen Begegnungen mit den Bewohnern der Gassen und Bassi, wie auch mit denen der „besseren“ Gesellschaft, zurückversetzt: mir wurden Sachen erzählt, die wir Nordeuropäer nicht glauben können – doch dort durchaus zum Alltag gehören.
Es ist kein leichter Text; man muss sich sehr konzentrieren, auch damit man den Überblick nicht verliert, wer gerade spricht und handelt. In einer großen Familie gibt es eben viele Menschen, die alle ihren Auftritt haben. Wenn dann der Text zwischen den Jahren und Generationen springt, möchte man sich am liebsten einen Plan malen. Es wäre wahrscheinlich eine schöne Zugabe zum Buch gewesen, wenn im hinteren Umschlag ein Stammbaum der Familien Maiorani und Umbriello beigefügt worden wäre.
Im italienischen Original sind die meisten Dialoge im Dialekt geschrieben. Das fällt in der Übersetzung natürlich weg, auch wenn die Übersetzerin Annette Kopetzki stellenweise versucht hat, einfache Sprache anklingen zu lassen und einige Worte unübersetzt zu lassen.
Beeindruckt und begeistert bin ich vom schillernden Panorama eines Familienkosmos‘ zwischen Kargheit, Einfalt, Brutalität und den kläglichen Versuchen, zu lieben.
Das Theater von Eduardo di Filippo feiert hier eine Auferstehung (Natale in Casa Cupiello). https://www.youtube.com/watch?v=AU34RWw3WME
Das Neapel der Elena Ferrante wird hier erst richtig plastisch – was für ein Unterschied!