Mose – Wüstenlektionen zum Aufbrechen
Man kann jemanden in die Wüste schicken – das ist für diesen wenig schmeichelhaft. Er wird ausgeschlossen, isoliert. Man kann aber auch sich selbst in die Wüste schicken, einen Wüstentag einlegen, mal nur zu sich kommen. Das habe ich früher gerne gemacht, als die Kinder klein waren und ich dachte, ich werde vom Alltag aufgefressen. Ich bin früh morgens los, zu Fuß, und habe einfach nur mit mir selbst einen ganzen Tag verbracht. Ohne Gepäck, einen Apfel und Kekse als Proviant. Da bin ich zu mir selbst gekommen, habe ich mich unbequemen Fragen gestellt und manchmal habe ich auch Antworten gefunden. Jedenfalls war ich danach wieder bereit für Familie und Alltag.
Ein ganzes Wüstenbuch mit intensiven Lektionen hat jetzt Heiner Wilmer vorgelegt. Der 1961 geborene Herz-Jesu-Priester wurde gerade zum 71. Bischof von Hildesheim berufen. Damit ist er wieder einmal, wie auch schon in seinen früheren Funktionen als Schulleiter oder Generaloberer seines Ordens, ein relativ junger Mann für ein solch bedeutendes Amt.
Wie begegnet man solchen Herausforderungen, die wir im Grunde alle irgendwie mehr oder weniger zu meistern haben?
Viele suchen sich heute einen Coach, folgen berühmten Gurus, suchen Erkenntnisse in beliebiger Ratgeberliteratur. Wilmer findet jedoch, wie könnte es für einen Priester anders sein, sein leuchtendes Vorbild in der Bibel. Da nimmt er sich jedoch keinen strahlenden Held oder makellosen Heiligen, auch nicht Jesus selbst zum Maßstab, sondern erkennt sich in der Figur des Moses wieder.
In dreizehn Kapiteln stellt er uns die schillernde und vielfach gebrochene Person des, wie Wilmer es formuliert, ersten modernen Menschen der Bibel vor.
Nach einer längeren Reise durch Afrika und einem daran anschließenden Besuch in einer Ausstellung von Damien Hirst in Venedig hat er die folgende Erkenntnis:
„So wie moderne Kunst die Welt des Menschen in verschiedenen Brechungen zu fassen versucht, so glaube ich, dass Mose die Verkörperung des modernen Menschen ist. Er ist ein Mensch mit Sehnsüchten und Hoffnungen. Aber auch ein Mensch mit Ängsten, mit Kanten, mit Abgründen. (…) Vor allem aber ist Mose einer, der den gleichen Hunger hat wie der moderne Mensch: den Hunger nach Freiheit.“
Nun nimmt uns Wilmer mit zu den vielen Stationen in Moses Leben und schlüsselt auf, welche Bedeutung gerade die jeweilige Begebenheit für die Entwicklung dieser berühmten Figur hat. Es gibt eigentlich keine Phase im Leben eines Menschen, die Moses nicht schon vorgelebt und ausgehalten hätte. In Kapiteln wie „Der fremde Totschläger“, „Der Brennende“, „Der Stotterer“ oder „der Treue“, um nur einige zu nennen, analysiert der Autor erst die meist sehr bekannte Episode, um sie dann ins Heute und als „Schlüssel zu mir selbst“ umzudeuten.
Das macht Wilmer so einleuchtend und menschenfreundlich – ganz ohne den religiös erhobenen Zeigefinger – dass selbst wenig religiöse Menschen etwas aus diesen Wüstenlektionen für den Alltag mitnehmen können.
Schön ist auch, dass Heiner Wilmer immer auch etwas aus seinem eigenen Leben preisgibt und zu Beispielen heranzieht, so dass es nicht nur ein Buch über Mose, sondern auch ein ganz persönliches Buch über den Autor wird. Er, der auf einem Bauernhof im Emsland aufgewachsen ist, zitiert am Ende seines Buches seinen alten Onkel Bernd, der ihn schon als Kind mit dem Satz, „Jungs, ihr dürft euch nie ganz satt essen.“ verwundert hat. Erst mit Mose, der das gelobte Land nicht betreten durfte, versteht er:
„Zu spüren, wann Schluss ist, egal, ob mit Essen oder anderen Dingen, das ist Achtsamkeit, das ist Wachheit. Achtsam zu sein, bedeutet wach zu sein, offen. Diese Wachheit und diese Offenheit wiederum machen Freiheit aus.“
In einem als Nachwort deklariertem Exkurs hebt Wilmer dann doch noch den Zeigefinger und beschwört die Gefahr herauf, dass das Abendland seine Seele verlieren könnte, wenn es verleugnete, auf einem jüdisch-christlichem Fundament zu stehen.
Nehmen Sie sich für dieses Buch Zeit, wenn es für eine Zeit in der Wüste nicht reicht!